Unser Vereinsmitglied Dr. Cordia Schlegelmilch zeigte Fotos und debattierte

in der Sächsischen Landesvertretung zu Berlin

 

»Ungleich vereint - 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution« – Lesung und Diskussionsveranstaltung mit Prof. Steffen Mau, Dr. Thomas de Maizière und Dr. Cordia Schlegelmilch

 

Die Protagonisten des Abends: Dr. Thomas de Mazière, Tanit Koch, Katja Meier, Dr. Cordia Schlegelmilch, Prof. Dr. Steffen Mau © Frank Hensel

 

Anlässlich des Jahrestages der deutschen Einheit am 3. Oktober, des 35. Jahrestages des Mauerfalls im November und der aktuellen politischen Situation nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg lud die Vertretung des Freistaates Sachsen beim Bund zu einer Lesung und Podiumsdiskussion unter dem Titel »Ungleich vereint - 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution« ein. Aus diesem Anlass konnte am Montag, 30. September Katja Meier, Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und der Gleichstellung in Vertretung für den Bevollmächtigten, Herrn Staatsminister Conrad Clemens, über 200 Gäste im sächsischen Haus begrüßen.

Sie alle hörten gespannt der Lesung von Prof. Dr. Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin zu. Mau ist Autor mehrerer Sachbücher und erhielt 2021 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In seinem neusten Buch »Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt«, welches im Juni dieses Jahres im Suhrkamp Verlag erschien, beschäftigt er sich mit dem Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland, zieht Bilanz zur Deutschen Einheit und macht Vorschläge zur Wiederbelebung der Demokratie in Osten. Steffen Mau widerspricht der Angleichungsthese, laut der Ostdeutschland im Laufe der Zeit so sein werde wie der Westen. Aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Nachwendejahre werde der Osten anders bleiben – ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betreffe. Im wissenschaftlichen Diskurs nimmt Mau eine in vielen Aspekten gegenteilige Position zu Prof. Dirk Oschmann aus Leipzig ein, der mit seinem 2023 erschienen Buch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« eine anderslautende These vertritt und diese im Frühjahr bereits in der Landesvertretung vorstellte.

Moderiert von der Journalistin Tanit Koch diskutierten im Anschluss an die Lesung Steffen Mau und der frühere Bundesminister Dr. Thomas de Maizière, einer der besten Kenner der politischen Szene der Wiedervereinigung, engagiert sowohl über die Einschätzung der gesellschaftlichen und politischen Situation als auch über Lösungsmöglichkeiten: und dies durchaus kontrovers. Angesichts der schwachen Verwurzelung der Parteien in Ostdeutschland plädiert Mau dafür, alternative Formen der Demokratie zu erproben und die Menschen über Bürgerräte stärker zu beteiligen. Diese Formate könnte dann auch in den westlichen Bundesländern übernommen werden. Thomas de Maizière widersprach in diesem Punkt, befürchtet Schwierigkeiten hinsichtlich der Umsetzbarkeit von Beschlüssen solcher Bürgerräte und sprach sich stattdessen für eine Stärkung der Institutionen aus.

Begleitet wurde der Abend mit einer Fotoausstellung und Einführung in die Studie der Soziologin Dr. Cordia Schlegelmilch. Sie reiste im Sommer 1990 durch die DDR. Am Beispiel der sächsischen Stadt Wurzen erforschte sie mit der Kamera und durch Interviews die Veränderung des Alltagslebens und die Lebensläufe der Menschen. Die Ausstellung »Endlich seid ihr da! - Ein fotografischer Blick zurück in die 1990er Jahre in Sachsen« ist vom 1. Oktober bis 29. November 2024 täglich von 10 bis 18 Uhr in der Landesvertretung zu sehen.

Staatsministerin Katja Meier begrüßt die Gäste in der Sächsischen Landesvertretung.

Die Soziologin Dr. Cordia Schlegelmilch berichtet über ihre Studien und ihre Fotos aus Wurzen in den Nachwendejahren.Der Autor und Soziologieprofessor Dr. Steffen Mau las aus seinem neusten Buch und erläuterte seine Standpunkte. Bundesminister a.D. Dr. Thomas de Maizière diskutierte mit auf dem Podium. Den Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor und Linda Teuteberg haben Spaß an der Veranstaltung. Über 200 Gäste verfolgen gespannt die Diskussion. Das Podium des Abends: Moderatorin Tanit Koch, Prof. Dr. Steffen Mau, Dr. Thomas de Maizière. Im Anschluss signierte Steffen Mau seine Bücher und stand zum Gespräch mit den Gästen bereit.Die Gäste betrachten die Fotografien von Dr. Cordia Schlegelmilch.

 

Der Vortrag von Dr. C. Schlegelmilch

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www.die-wurzen-studie.de

Fotografien und Ergebnisse einer Stadtstudie in Sachsen in den Jahren 1990

bis 1996. Vortrag anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Endlich seid ihr

da! Ein fotografischer Blick zurück in die 1990er Jahre in Sachsen“ in der

Vertretung des Freistaates Sachsen beim Bund in Berlin, am 30.9.2024.

 

Verehrte, liebe Gäste!

Ich danke der Sächsischen Landesvertretung, heute Teil des Abends sein zu

können und dem kulturhistorischen Museum Wurzen wie auch Freunden für ihre

Unterstützung. Die Ausstellung ist Teil meiner langjährigen Stadtstudie in

Sachsen von 1990 – 1996.

Ende November 1989, die Mauer war gerade gefallen, lebte ich bereits 17

Jahre in Westberlin. Immer wieder besuchte ich tageweise Ostberlin, mehr aber

kannte ich von der DDR nicht. Und dies, obwohl ich 1952 in Magdeburg

geboren bin. Die DDR war durch die Fluchterfahrungen meiner Eltern Mitte der

50er Jahre allerdings weitgehend tabu. Das war im Winter 1989 für mich anders!

Ich war neugierig und wollte endlich mehr vom Leben und dem Alltag in der

DDR wissen. Insbesondere wollte ich erfahren, wie die Menschen den

gesellschaftlichen Umbruch verarbeiten und sich das Zusammenleben in einer

Stadt ändert.

Ich befand mich in einer beruflichen Umorientierung von einer

langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin

für Sozialforschung zu einer Fotografin und fasste im Sommer 1990 den

Entschluss, Soziologie und Fotografie zu verbinden. Ich wollte am Alltag des

„anderen Deutschlands“ teilnehmen und mir sehr viel Zeit nehmen, mich auf die

Menschen einzulassen. Jan Philipp Reemtsma, damaliger Leiter des Hamburger

Instituts für Sozialforschung, ermöglichte mir einen zweijährigen

Forschungsaufenthalt.

Im Sommer1990 machte ich mich auf den Weg, eine geeignete Stadt zu

finden. Es sollte eine Kreisstadt mit ca. 20.000 Einwohnern sein. Ich suchte nach

einer Stadt mit Geschichte und vielfältiger Industriestruktur, also keine

sozialistische Planstadt, die beispielsweise von einem einzigen Kombinat

beherrscht wurde. Auf meiner Fahrt begrüßten mich selbstbemalte Banner mit

Slogans wie: „Endlich seid ihr da“, „Deutschland einig Vaterland“, „Wir

kommen zusammen“ oder „Willkommen in der Heimat!“. Die Fotografien der

Ausstellung zeigen einige Motive dieser Reise, hier konzentriert auf Sachsen.

Sie sind eine Art visuelles Tagebuch.

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Am Ende entschied ich mich für Wurzen, an der ersten Deutschen

Ferneisenbahnstrecke zwischen Leipzig und Dresden gelegen. Als ich von

Oschatz kommend auf der damaligen F6 über die Dresdner Straße nach Wurzen

fuhr, war ich begeistert von den vielfältigen Fabrikantenvillen und alten

Fabriken, die dicht am historischen Stadtkern lagen und von einer reichhaltigen

Industriegeschichte zeugten. Das Umland war landwirtschaftlich geprägt. Nach

einer Regionalanalyse von 1990 kann Wurzen stellvertretend für einen großen

Teil vergleichbarer Städte in der DDR stehen.

Das erste Jahr wohnte ich bei einer Familie zur Untermiete. Bis 1996

besuchte ich Wurzen wochenweise und verbrachte einige Zeit bei Frieda

Sternberg, einer Kandidatin des ZK, die nach ihrer Flucht aus Ostpreußen an der

örtlichen Gründung der SED beteiligt war und bis Mitte der 80er Jahre eine

große LPG geleitet hat. Ich wollte den vollständigen Lebensgeschichten der

Wurzener Raum geben, weil ich davon ausging, dass die biographischen

Erfahrungen das Erleben der gegenwärtigen Umbrüche und die Erwartungen an

die Zukunft maßgeblich prägen. Und ich hörte einfach zu! Ich habe mit

insgesamt 173 Personen meist mehrstündige biographische Interviews geführt.

Ich sprach mit langjährigen Funktionären, neuen Dezernenten, Betriebsleitern,

Arbeitern und Angestellten, LPG Mitgliedern, Vertretern des Wirtschafts- und

Bildungsbürgertums, der Kirche, mit Alten, Jungen und Arbeitslosen. Das

Spektrum ist also breit gefächert.

Die 424 Tonbänder ergeben rund 600 Stunden Transkriptionsmaterial. Nie

wieder waren bei den Wurzener Bürgern die Gesprächsbereitschaft so groß und

die Erinnerungen so lebendig, wie in dieser Zeit. Selbst 1996 war noch alles im

Fluss. Das Wort von einer Wild-West Zeit machte die Runde, Wirtschafts-

kriminalität war an der Tagesordnung. Und manche sagten, sie fühlten sich wie

in einer Kolonie. Der Westen galt als alleiniger Maßstab, modern und

entwicklungsfähig. Es ist schwer, unter diesen Bedingungen kulturelle Identität

zu bewahren.

Ich besaß bis dahin einen Schatz an Lebensgeschichten aus verschiedenen

Generationen und Milieus, die bis in die 1920er Jahre zurückreichten und davon

erzählten, wie sich Biographien und Alltag immer wieder verändert haben! Sie

bilden ein Fundament, um Ressentiments von heute zu verstehen. Die Interviews

formen ein Erzählpanorama einer Stadt, in dem sich alle Wurzener in ihren

unterschiedlichsten Erfahrungen und Meinungen wiedererkennen können.

Wer es ernst meint, die Ostdeutschen verstehen zu wollen, muss sowohl

die verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsetappen der

DDR betrachten als auch zwischen einzelnen Berufsgruppen und Generationen

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differenzieren. Das Leben in der DDR-Provinz unterschied sich zudem stark

vom Leben in den Großstädten. Der Westen war für viele meiner

Interviewpartner – sofern sie keine Verwandten dort hatten – weit weg, übrigens:

Ostberlin auch.

Generell reichten die Bilanzen über das Leben in der DDR von: „Das

System war verbrecherisch“ über „der Sozialismus wurde nur falsch umgesetzt“

bis hin zu „ich bin und bleibe DDR-Bürger und halte an meinen Überzeugungen

fest“. Zwar haben die Menschen in engen politischen und wirtschaftlichen

Verhältnissen gelebt, sie blickten aber mit Selbstachtung auf ihre Lebensleistung

zurück und sei es nur das Fazit: Wir sind zurechtgekommen! „An uns lag es

nicht, dass der Staat zugrunde gegangen ist“. „Wir haben gearbeitet und

Produktionsausfälle und andere Mängel waren Teil der falschen

Wirtschaftspolitik.“

Viele Ältere kamen immer wieder auf das Kriegsende und die

wirtschaftlichen Nachteile zu sprechen, die die Teilung Deutschlands für die

DDR bedeutet hätten. „Wer hat denn die meisten Kriegslasten tragen müssen“,

hieß es. „Wir, die Ostdeutschen“! Alle Interviewten, auch Opfer der SED,

fühlten sich in der Wendezeit in verschiedener Weise unter

Rechtfertigungsdruck, in der DDR gelebt und geblieben zu sein. Doch es war ihr

Leben: mal schwere, mal glückliche Zeiten!

Und es gab trotz der SED-Herrschaft und dem Bau der Mauer eine

Vielzahl unpolitischer und identitätsstiftender Lebensformen. Man blieb nicht

nur notgedrungen, sondern auch wegen der Familie, den Freunden oder aus

Bindung an die Heimat. Und so rief der Superintendent der Evangelischen

Kirche am 3. Oktober 1990 dazu auf „mit erhobenem Haupt“ in die Einheit zu

gehen.

In Wurzen konnte ich sehen, dass staatliche Umgestaltungsmaßnahmen

der SED nicht zum völligen Verschwinden traditioneller bürgerlicher Milieus

geführt haben. Nach 1989 konnten die in der DDR politisch überformten oder

weitgehend stillgestellten sozialen Unterschiede teilweise wiederaufleben.

Allerdings verfügten einzelne Gruppen weit mehr über bestimmte Ressourcen

wie Bildung, Einkommen und Hausbesitz als beispielsweise die Arbeiterschaft,

die außerdem ganz besonders von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen war.

Ich fotografierte damals mit einer Kleinbildkamera auf Film. Das gibt den

Fotografien eine ganz eigene Authentizität. Der Betrachter erkennt noch die

Überlagerungen verschiedener Zeitschichten: das 18. und 19. Jahrhundert, das

Vorkriegsdeutschland, die Bauweise der DDR und die ersten Vorboten bunter

westlicher Werbung mit Tchibo, den Zigarettenmarken West und Marlboro

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sowie alte und neue Wahlplakate. Meine Fotografien zeigen die Zeit des

Übergangs vom “Nicht-Mehr“ zum „Noch-Nicht“.

Als ich 2002 und 2019 eine Auswahl meiner Fotografien in zwei großen

Ausstellungen in Wurzen zeigte, konnten es viele kaum fassen „Sah es damals

wirklich so aus? Wir haben das gar nicht so wahrgenommen“ oder: „Wir

kannten es ja nicht anders!“ Wer heute durch das schmucke Wurzen schlendert,

könnte meinen, dass die Einheit nach fast 34 Jahren erreicht sei. Aber wer

erwartet hatte – und das waren 1990 im Westen die meisten – dass die Einheit

durch eine kurze Kraftanstrengung zu gewinnen sei, sieht sich getäuscht. Wenige

Wochen nach dem Tag der Deutschen Einheit 1990 breiteten sich bereits

Enttäuschung und Zukunftsängste aus. Hörte ich zuerst immer wieder den

gleichlautenden Satz: So konnte es in der DDR nicht weitergehen, so schlug

dieser schnell um in: Aber so, wie es jetzt ist, geht es auch nicht. Bereits im

Winter 1990 gab es erste Proteste gegen Betriebsschließungen und Arbeits-

losigkeit vor den Fabriktoren in Wurzen, die sich mit Unterstützung der PDS zu

neuen Montagsdemonstrationen und später zu Protestformen wie Pegida

formiert haben.

Die aktuelle Diskussion darüber, wie es um die deutsche Einheit bestellt

ist, ist längst nicht neu. Schon 1961 drückte der westdeutsche Soziologe Ralf

Dahrendorf in seinem Buch Gesellschaft und Freiheit seine Skepsis über eine

reibungslose mögliche Wiedervereinigung Deutschlands aus. Ich zitiere:

" Nimmt man die Entwicklung in den beiden Teilen der deutschen

Gesellschaft ernst … betrachtet man die Unterschiedlichkeit der Antworten auf

die gemeinsamen Herausforderungen von 1945 und verlängert diese in die

Zukunft, dann könnte die Wiedervereinigung Deutschlands eines Tages von

innen her unmöglich werden." Zitat (CS: leicht gekürzt)

Vor allem die Gespräche mit den älteren Wurzener Bürgern zeigen, dass

die DDR nicht nur von ihrem Ende aus gesehen werden darf, sondern in den

Kontext der gesamten deutschen Geschichte gestellt werden muss. Das gilt auch

für die Lebensläufe. Weder das Jahr 1949 noch 1989 waren eine „Stunde Null“

und die DDR, das zeigt sich immer deutlicher, ist wohl doch keine „Fußnote der

Geschichte“ (Stefan Heym).

Bleiben wir also neugierig! Vielen Dank!

 

         alle Fotos © Frank Hensel 

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